Steven

Hier wohnt Steven. Seit drei Jahren schon. Tag und Nacht, sommers wie winters, bei Regen, Sonne, Eis und Schnee. Jeder kennt ihn. Und keiner kennt ihn. Steven wohnt mitten unter uns und zugleich völlig allein.

Noch ist der Tag nicht angebrochen. Umhüllt von der schützenden Dunkelheit der Nacht klackern sich meine Schuhe durch den Kiez zum Kippenpaul. Bloß mein Mond leuchtet mir treu und still mit seinem tiefen, weißen Frieden mitten im Großstadtmoloch.

Stevens Blickfeld habe ich kaum erricht, da rollt er mir mit seiner dichten und tragenden, diesmal warmen Stimme einen samtigen Teppich aus. Fast singend, jedenfalls mit Pathos, erreicht sein akustischer Weitwurf meine Füße und Ohren: “God save the Queen”.

Situationskomik. Kino ohne Geld.

Wäre Steven Synchronsprecher, wäre er vermutlich Millionär und verliehe seine herausragende, kraftvolle und gewaltig-melodische Stimme den ganz Großen. Aber mit Steven ist es anders gekommen. Kein Kino also. Und Geld? Keine Ahnung.

God save heute also mal wieder the Queen. Bitteschön. Meine Systeme entspannen sich augenblicklich. Heute schleudert Steven kein “I’m a hells angel” - mit oder ohne schwungvollem Olé hinten dran durch die Luft, kein “Arschloch” und auch keine braunen Begeisterungsphrasen vergangener deutscher Tage.

Wer ist Steven? Keiner weiß es wirklich. Aus Great Britain kommt er, so viel scheint sicher. Er dürfte um die 60 sein. Sein Bart ist lang, wie der von Karl Marx, seine Frisur ähnlich - nur ohne seit Jahren einen Kamm gesehen zu haben.

Steven umgibt ein strenger Körpergeruch und eine oftmals dunkle Aura. Seine Kleider sind verschmutzt und verlöchert. Er raucht viel, trinkt viel und geht, wenn er geht, sehr langsam. Vom Hören kennen wir ihn alle hier, denn seinen Hells Angel schleudert er - je nach Zustand - manchmal stundenlang und in wahrhaft gewaltigem Radius durch unser Dorf.

Seinen dritten Winter verbringt Steven nun schon hier, mitten unter uns, auf dem großen Platz, umsäumt von Häusern und hunderten Bewohnern, völlig allein. Steven hat auf seiner Bank schon Minusgrade von weit unter 15° Celsius überlebt. Anwohner hatten ihm gar ein Schutzgestell gebaut, er wollte es nicht.

Manchmal holt die Polizei Steven ab. Und manchmal die “Engel” in weiß. Wenn diese mit ihm fertig sind und Steven ein paar Tage später wieder auf seiner Bank wohnt, sieht er noch aufgequollener aus, als sonst. Seine Hells Angels schlingern dann für ein paar Tage nur noch selten und brüchig durch die Luft, bis er sich von den Eingriffen der White Angels erholt hat und wieder der alte ist.

Für viele Anwohner ist Steven der Abschaum. Nahe an dem Abfall, den seine Bank morgens oft umlagert. Andere hegen Respekt vor seiner enormen Überlebensleistung. Seit drei Jahren nicht aufgewärmt. Immer wieder durchnässt bis auf die Knochen, vom Regen, bei Eiseskälte. Keine Wärme, nirgends. Keine Würde, nirgends.

Viele fragen sich kopfschüttelnd, warum Steven keine Notunterkunft für Obdachlose aufsucht.

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Ich frage mich, ob jene, die derart wohlgemeinte Empfehlungen vorbringen, selbst jemals eine solche betreten haben? Und falls ja, wie lange sie es dort ausgehalten hätten? Ratschläge sind auch Schläge.

Ich frage mich noch etwas anderes.

Auch Steven wurde einmal geboren. Auch Steven kam so schuldlos auf die Welt, wie all die verwöhnten Premiumprinzen und -prinzessinen aus dem Prenzlauer Berg, die Steven jeden Tag passieren und anstarren. Auch Steven war einmal ein glucksendes, lebenshungriges Kullerkind mit riesengroßen, neugierigen Augen. Mit ganz viel Liebe und Lust auf das Leben, allüberall.

Was nur ist geschehen mit Steven, dass er dort gelandet ist, wo er gelandet ist? Auf der Parkbank anstatt im Synchronstudio? Was hat dieses einstig vollkommen schuldlose, extrem starke und potantialstarke Kind erlebt? Überlebt? Angesehen? Ausgehalten? Entbehrt?

Wer hat Steven was bloß angetan? Wer hat ihn nicht geschätzt? Nicht geschützt? Nicht in erster Instanz, nicht in zweiter? also: weder familiär-sozial noch staatlich?

Eine Kette ist noch immer nur so stark, wie ihr schwächstes Glied es ist.

Steven hätte sicherlich leichthin Gewalttäter werden können. Dann wäre er heute im Knast und würde den Staat und unsere Gesellschaft jeden Tag ein paar hundert Euro kosten.

Oder er hätte in der Irrenanstalt landen können. Dann würde er den Staat und unsere Gesellschaft jeden Tag ebenfalls ein paar hundert Euro kosten.

Steven aber hätte auch behütet, versorgt und gefördert werden können. Falls seine Eltern dies nicht konnten, hätte der Staat einspringen müssen, denn der Staat soll ja jene schützen, die des Schutzes bedürftig sind.

Dann hätte Steven, zum Beispiel, als Synchronsprecher locker Millionär werden können und dem Staat jeden Tag lächelnd ein paar hundert Euro Steuern bezahlt. Und uns allen so schöne Geschichten so wunderschön erzählt, dass es selbst den coolsten Kerl zu Tränen gerührt hätte.

Menschen erklären mir immer wieder, warum der Staat die Schutzlosesten nicht beschützen kann. Warum dies - allein schon aus finanziellen Gründen - nicht möglich sei. Ich stelle ein paar Gegenfragen:

erstens: auf welcher moralischen Basis ist es unserer Gesellschaft überhaupt möglich, die wirklich Schutzbedürftigen - seit eh und je - im Zweifel völlig allein zu lassen?

zweitens: wie rechnet sich dieser Bruch der Grundrechte für unsere geldfokussierte Gesellschaft monetär?

drittens: den höchsten Preis für unser Säumnis bezahlt Steven selbst. Mit seinem nackten Leben. Das er einstmals ganz sicher genauso geliebt hat, wie ich das meine und Du das Deine. Kannst Du das fühlen?